Obwohl ich viele Kleider in meinem Leben besaß, gab es ein paar, die eine besondere Rolle
spielten - nicht unbedingt die schönsten und schmeichelhaftesten, sondern einfach Einzelteile, die
aus irgendeinem Grund an einem bestimmten Punkt in meinem Leben besondere Kräfte hatten -
die Macht, mich zu verwandeln, wenn ich sie anzog.

Das erste kam von H&M. Ich kaufte es im August in Uppsala, in dem Sommer, den ich mit meiner
Familie die Sommerferien in Schweden verbrachte. Und es war das erste Kleid bei dem ich
meinen Vater überzeugen musste, mir es zu kaufen, weil es für seinen Geschmack eindeutig zu
kurz war. Aber am Ende habe ich es bekommen, weil ich ihm versprach, wenigsten obenrum
meinen Nirvana Hoodie überzuziehen, wenn wir „draussen“ unterwegs waren.Es war ein schwarzes Minikleid aus Baumwollripp, mit dem typischen Mid-Neuziger- Neckholder-
Spaghettiträgern.

Wenn ich es anzog, blickte mir aus dem Spiegel plötzlich das Teenie-Girlie entgegen, das ich sein
wollte. Nicht die Vogelscheuche mit Oversize Bugs Bunny Pullover, die von ihrem Schul-Schwarm
ignoriert wurde und die ihre Kleider meistens noch mit ihrer Mutter zusammen kaufte. Sondern
eine freche junge Frau mit einer sinnlichen Figur.

Zum ersten Mal trug ich es beim alljährlichen Water Festival in Stockholm 1996.
Und als ich es anzog, schlüpfte ich in die neue Rolle: selbstbewusst und zuversichtlich.
Ich wußte das ich nach diesen Sommerferien verändert nach Hause kehren würde.
Ich trug das Kleid, wann immer sich eine Gelegenheit bot. Ich trug es zur Partys und in der Schule
- immer dann, wenn ich das Bedürfnis hatte, hübsch oder erwachsen oder selbstbewusst
auszusehen. Ich bin überzeugt, das es mir mindestens einen Freund einbrachte.Da es billig war, zeigte das Kleid Spuren der Abnutzung, ich färbte es wieder schwarz und ruinierte es mit meinen laienhaften Reparaturversuchen. Was seiner magischen Kraft keinen Abbruch tat.
Dann, als ich 21 war, vergass ich es in Barcelona. Ich trauerte kurz. Aber es war Schicksal. Das
Kleid hatte seine Schuldigkeit getan.
Es war verschwunden, um nie wieder aufzutauchen. Es dauerte zwei Jahre, bis sich ein würdiger
Nachfolger fand.Kleid Nr. 2 war anspruchsvoller. Es war sogar zu dem Zeitpunkt das teuerste Kleidungsstück, das ich besaß. Es war aus cremefarbener Schurwolle, züchtig geschnitten mit einem Tulpenrock, der oben anlag und unten weit war, einem hochgeschlossenen Kragen und Leisten von Goldknöpfenam Hals und an den Handgelenken.
Ich war monatelang um das Kleid herumgeschlichen, bis ich genug Geld gespart hatte, um im
Schlussverkauf zuzuschlagen. Es kam in mein Leben, als ich gerade meinen ersten Bürojob
antrat, und war die perfekte Uniform für diesen Job. Es wurde mein Markenzeichen im Büro und
passte zu dem distanzierten, witzelnden Ton, den ich damals gern anschlug.
Mein Freund verabschiedete sich nach dem vorangegangenen Sommer, in die Arme einer
anderen und mir gefiel, dass das Kleid meine Unabhängigkeit und Unerreichbarkeit signalisierte.
 

Kurz, Kleid Nr.2 gab mir das Gefühl, Gold wert zu sein. Dann tauchte eines Tages meine Chefin im
Büro auf, sagte beiläufig: „Ich habe ein neues Kleid“ öffnete den Mantel und zum Vorschein
kam... Kleid Nr. 2 mein Kleid Nr.2...Wenn auch an einer größeren Figur. Ich war verletzt und vor den Kopf gestossen, denn schließlich musste ich mir auch ein Bürozimmer mit ihr teilen. Ich hängte Kleid Nr. 2 in den Schrank und suchte mir einige Zeit später einen anderen Job. Kurze Zeit später war auch das Kleid verschwunden. Vielleicht bei einem Umzug? Wer weiß. Wochenlang durchsuchte ich meine Wohnung in der Hoffnung, es möge wieder auftauchen, doch auch dieses Kleid hatte seine
Schuldigkeit getan.

Kleid Nr. 3 kam an einem Tiefpunkt in mein Leben. Ich hatte Liebeskummer und war leicht
runtergekommen. Die Inhaberin der Boutique, in der ich nebenbei jobbte, da der tolle Designjob
super schlecht bezahlt war, schenkte mir zum Geburtstag das Kleid, für das ich mich seit
Monaten begeisterte. Ich war ständig pleite, da fast alles für die teure große Wohnung drauf ging,
die ich unbedingt haben musste. Ich hatte das Kleid nur sehnsüchtig aus der Ferne bewundern können. Als ich die Schachtel öffnete und Kleid Nr.3 zum Vorschein kam, traten mir Tränen in die
Augen.

Kleid Nr. 3 ist das zweckmäßigste der drei. Es ist ein Hemdblusenkleid aus Jeansstoff, der Kragen sehr klassisch und nahezu langweilig. Es ist ein Schläferkleid - man bemerkt es kaum, sondern
nur die Frau, die darin steckt. Als es neu war, trug ich es überallhin, mindestens drei Tage die
Woche. Und als ich mich endlich wieder mit Männern verabredete, trug ich es zu Dates.
Ich trug es als ich meinen Exfreund mit seiner neuen Freundin begegnete. Ich trug es beim ersten
richtigen Date mit dem Mann, mit dem ich mich später verloben würde und auch, als ich seine
Familie kennenlernte. Das Kleid hat mich nie enttäuscht.

Dieses Kleid ist nicht verschwunden. Ich weiß genau, wo es in meinem Kleiderschrank ist. Seit
mehr als zwei Jahren hängt es dort ungetragen. Im letzen Sommer habe ich es einmal
herausgeholt. Ich hatte die erste Datenight mit meinem Mann - die erste nach 4 Jahren - also
seitdem die beiden Mädchen auf der Welt sind. Und einen Moment lang fragte ich mich, ob die
alte Magie meine Nerven beruhigen würde. Denn ein wenig nervös war ich irgendwie schon.
Es war etwas abgetragen an den Säumen, aber es sah immer noch nett aus. Als ich es anzog -
ein schmeichelndes, schönes Kleid.Kurze Zeit überlegte ich, doch dann knöpfte ich es wieder auf und hängte es zurück in den Schrank. Ich brauchte etwas Neues. Aber was? Magie lässt sich nicht erzwingen. Doch da fiel mein Blick auf das rote Kleid mit tiefen Rückenausschnitt, welches ich mir vielleicht 2 Wochen vorher einfach im vorbei gehen aus dem Laden mitgenommen hatte. Ich betrachtete es das erste Mal genauer, es war perfekt. Perfekt für diese warme Sommernacht und perfekt für mein neugewonnenes Körpergefühl und Leichtigkeit. Da war die Magie. Da ist Kleid Nr. 4